Jonas Wolf - Band 2 - Heldenzorn.pdf

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Gewidmet all jenen,
die noch das Feuer der Freiheit
im Herzen tragen
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen
Buchausgabe
1. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95514-0
© 2012 Piper Verlag GmbH, München
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagabbildung: Alan Lathwell
Signet: Lydia Schuchmann
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
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Prolog
Die Nacht, in der Tamnis Stamm ausgelöscht wurde, begann mit
einem Fest. Die Jungen tanzten um die Feuer und wirbelten ihr
Haar umher, Schellenkränze um die Knöchel. Die Alten schauten
zu, lachten und klatschten im Takt. In Strömen floss die vergorene
Milch der Stuten, löste die Zungen und öffnete die Herzen.
Und hatten die Sukawantschi Manil, die Kinder der Weite, nicht
auch allen Anlass zur Freude? Hatte es nicht noch am Morgen eher
danach ausgesehen, als müssten sie die Sehnen auf ihre Bögen
spannen und als würden die steinernen Köpfe ihrer Keulen bald
Blut schmecken?
Immer sonst, wenn die Suda Ojate, die Harten Menschen in
ihren Rüstungen aus Metall, auf ihr Land gekommen waren, hatten
sich die Fremden feindselig gezeigt. Hatten getötet und geraubt.
Hatten die Männer und die Alten erschlagen und die Frauen und
die Kinder verschleppt. Hatten die Zelte in Brand gesteckt oder sie
mit den massigen Leibern ihrer gepanzerten Reittiere zermalmt –
Bestien so hoch wie zwei Männer, mit dicker Haut grau wie Stein
und einem fleischigen Schlauch als Schnauze, der zwischen zwei
spitzen Stoßzähnen herunterbaumelte.
Diesmal war alles anders gewesen.
Die Harten Menschen – nicht mehr als zwei Dutzend und den
Kindern der Weite damit an Zahl deutlich unterlegen – schlugen
ein Lager auf, um einen der Haufen aus aufgeschichteten Steinen
herum, mit dem alle Sippen der Steppe die Stellen markierten, an
denen es sich lohnte, nach Wasser zu graben. Dann setzten sie sich
hin und warteten. Sie blieben selbst dann noch sitzen, nachdem
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Scheschoka den Haltepfiff für den gesamten Tross ausgestoßen
und sich die Staubwolke um die Kinder der Weite wieder gelegt
hatte. Nur einer der Fremden hob die Hand und winkte. Zweimal
von links nach rechts, dann noch zweimal, wie man winkte, wenn
man jemanden zu sich ins Zelt einlud.
»Lasst sie uns töten!«, drängten einige der heißblütigeren
Krieger, die noch kein Bild auf der Haut trugen, womit sie stolz be-
weisen konnten, schon einmal einen Feind erschlagen zu haben.
»Lasst uns ihnen keine Beachtung schenken und weiterziehen«,
war die Forderung mancher der erfahreneren Männer und Frauen.
Scheschoka, dem der Schamane nach Rücksprache mit den
Geistern für diesen Mond die Rolle des Entscheiders zugedacht
hatte, hatte weder auf die einen noch auf die anderen gehört. Und
Tamni war stolz darauf, dass er sich an das Gesetz der Steppe ge-
halten hatte.
Scheschoka schoss einen Pfeil zu den Harten Menschen hinüber,
um dessen Schaft er ein blaues Band gewunden hatte. Der eine
Fremde, der zuvor gewunken hatte, erhob sich, um den Pfeil aus
der Erde zu ziehen. Tamni fiel auf, dass sich dieser Harte Mensch
von seinen Begleitern unterschied. Er trug keine Rüstung, sondern
ein locker fallendes rotes Gewand, das der stete Steppenwind auf-
bauschte, und für einen Moment wirkte es, als loderten Flammen
aus seinem Rücken. Den Pfeil in der Hand, sah er kurz zu ihnen
herüber, ehe er in einem der sonderbaren Zelte verschwand, das
die Harten Menschen aufgebaut hatten. Es war nicht rund wie ihre
eigenen Zelte. Es hatte vier Ecken, ganz so, als müsste alles, was
diese Fremden ihr Eigen nannten, kantig sein und Spitzen
aufweisen.
»Sie sind dumm«, murrte ein junger Krieger. »Sie wissen nicht,
was der Pfeil bedeutet. Sie haben es nicht einmal verdient, dass
ihre Haut mein Zelt schmückt.«
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»Was willst du mit ihrer Haut?«, entgegnete einer seiner Fre-
unde. »Sie schreiben sich doch nicht einmal ihre Taten darauf. Sie
haben Kinderhäute.«
Scheschoka, dessen Hals so rot war wie der des Vogels, von dem
er seinen Namen erhalten hatte, zeigte zum Lager der Harten
Menschen. »Da.«
Der Fremde im roten Gewand war aus dem Zelt herausgetreten,
begleitet von einem zweiten Mann, der nun in ihre Richtung zeigte.
Einer der Gepanzerten reichte ihm einen Bogen. Ein Raunen ging
durch Tamnis Stamm. Ein Pfeil schwirrte auf sie zu. Tamni hielt
den Atem an. Das Geschoss landete keine zwanzig Schritt vor
Scheschoka im kniehohen Gras. Scheschoka stieg von seinem Pferd
und eilte zum Pfeil. Tamni konnte das blaue Band darum sehen
und die kleine Ausbuchtung in dem gewickelten Stoff. Geschickt
legte Scheschoka frei, was die Fremden ihnen gesandt hatten: ein-
en Streifen Dörrfleisch. Ein Hund wuselte kläffend unter den Bein-
en von Tamnis Pferd hindurch, um frech Anspruch auf den Lecker-
bissen zu erheben.
Scheschoka sah auf das Fleisch, zu den Harten Menschen,
wieder auf das Fleisch, und dann suchte er den Blick des Schaman-
en. Unter dem Geklapper der Rasseln an seinem Gürtel trat Go-
patanka an seine Seite.
»Was sagen die Geister?«, fragte Scheschoka.
Der Schamane hob den Kopf zu den Wolken am Himmel, mur-
melte leise, ging in die Hocke, streichelte das Gras und leckte sich
die Fingerspitzen. »Sie schweigen.«
Scheschoka rieb sich das Kinn. »Ist das gut oder schlecht?«
»Es ist, wie es ist«, antwortete Gopatanka.
Im Lager der Fremden winkte der Mann in dem roten Gewand.
Zweimal. Wie man winkte, wenn man jemanden zu sich ins Zelt
einlud.
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