Die Zeit 2007 45.pdf
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SCHWARZ
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Nr. 45
DIE ZEIT
DIE ZEIT
Nr. 45
31. Oktober 2007 62. Jahrgang
C 7451 C Preis Deutschland 3,20 €
Das Wissen dieser Welt: www.zeit.de/bildungskanon
DKR 38,00 · FIN 5,80 € · E 4,30 € · F 4,30 € · NL 3,90 € · A 3,60 €
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WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK • WIRTSCHAFT • WISSEN UND KULTUR
Der überforderte Verbraucher
Das Wissen der Welt
Teil 2:
Demokratie
Willy Brandt, Abraham
Lincoln und Georg Forster
waren große Verfechter der
Demokratie in aller Welt.
Im ZEIT-Bildungskanon
schildert Gunter Hofmann,
wie die Demokratie nach
Deutschland kam.
Dazu Fragen an den
Historiker
Hans-Ulrich
Wehler. Und
die wichtigsten
Stationen
einer der
bedeutsamsten
Errungenschaften
der Menschheit
WISSEN S. 48/49
Warum wir Qualität und gute Preise in der Masse des Angebots nicht mehr finden
WIRTSCHAFT S. 23–25
Meine Daten sind frei
Eine neue Generation findet nichts dabei, ihr Privatleben im Internet vermarkten zu lassen
VON GÖTZ HAMANN
Da staunt der General
Die Türkei steht kurz davor, in den Irak einzufallen. Einen größeren
Fehler könnte sie nicht machen
VON MICHAEL THUMANN
E
ine amerikanische Internetfirma namens
M
arschieren die Türken in den Irak
ben oder ein paar Leute ihr Innerstes in TV-Shows
nach außen kehrten, konnte man denken: Sie
sind die Ausnahme. Doch die Sozialen Netzwerke
zeigen, dass die meisten 13- bis 29-Jährigen an-
ders darüber denken. Eine ganze Generation of-
fenbart jetzt ihr Privatleben bei einer Handvoll
kommerzieller Anbieter, und indem sie das tut,
sprengt sie bisherige Konventionen.
macht. Sie scheint zu rufen: »Ist uns doch egal.
Kommt alle rein!«
Und warum auch nicht? Es ist alltäglich gewor-
den, sich zu exhibitionieren – zumindest ein biss-
chen. Alle Welt telefoniert in der Öffentlichkeit.
Casting-Shows verbreiten die Botschaft, dass jeder
ein Star sein kann und Dramen erlebt, die es wert
sind, erzählt zu werden. Egal, wohin man schaut,
in der Mode oder im Internet, ein wenig Exhibitio-
nismus gehört zum guten Ton.
Zudem scheint man ja erst einmal unbeobach-
tet zu sein, wenn man sich ins Internet begibt. Denn
man tut es von zu Hause, vom Büro aus oder geht
unterwegs mit seinem privaten Laptop online.
Langfristig kann diese Offenheit aber zum Pro-
blem werden, weil man eben doch Spuren hinter-
lässt. Jede Mail, jedes Foto, jeder Beitrag in einer
Diskussionsgruppe wird auf Dauer gespeichert.
Personalchefs berichten, dass Einträge bei Google
und anderswo schon Karrieren zerstört haben. Das
Internet vergisst nicht.
Nato mühselig um Erfolg, im Irak und im
Libanon erlitten die Supermacht Amerika
und das hochgerüstete Israel bittere Nieder-
lagen. Und nun will die Türkei die PKK in
den Bergen des Iraks kleinkriegen?
Facebook soll 15 Milliarden Dollar wert
sein, obwohl sie nicht einmal vier Jahre
alt ist und vielleicht 150 Millionen Dol-
lar Umsatz macht. Die Manager des Softwarekon-
zerns Microsoft hat das nicht gestört. Vor einer
Woche haben sie 240 Millionen Dollar für rund
anderthalb Prozent an Facebook gezahlt. Stecken
wir schon wieder in einer Spekulationsblase?
Sicher, das erinnert an die von Gier und irren
Wachstumserwartungen geprägte Ära der Tech-
nologieaktien vor zehn Jahren. Trotzdem lohnt
ein genauer Blick. Denn die Firma Facebook do-
kumentiert einen tiefen gesellschaftlichen Wan-
del. Onlineangebote wie das von Facebook kün-
digen das Ende der Privatheit an, wie wir sie
kennen, sie rühren an den Grundfesten bürgerli-
cher Freiheit.
Um das zu verstehen, muss man wissen: In den
westlichen Industriestaaten nutzen mindestens 400
Millionen Menschen ein sogenanntes Soziales Netz-
werk im Internet. Vor vier Jahren war es beinahe
niemand.
Was die Nutzer dort finden? Vor allem sich selbst
und ihre Freunde. Zunächst erstellt jeder einen
persönlichen Steckbrief. Darin geben Nutzer min-
destens preis, wer sie sind und welche Freunde sie
haben. Darüber hinaus ist alles möglich. Und so
entblößen sich viele regelrecht, schreiben auf, was
sie essen, anziehen, lieben, hassen, was sie denken,
wen sie mögen und welche Musik sie hören. Sie
klagen ihr Leid, diskutieren in Gruppen über Ski-
fahren, Vegetarismus, Magersucht – und manchmal
über ihre politischen Einstellungen.
Das größte dieser Netzwerke heißt MySpace.
Facebook wächst am schnellsten. Und in Deutsch-
land sind StudiVZ und SchülerVZ am populärsten.
Beide gehören (wie die
ZEIT)
zur Verlagsgruppe
Holtzbrinck. Kein anderes Internetangebot wird
hierzulande so intensiv genutzt wie diese beiden,
was die zusammen sechs Milliarden Seitenabrufe
allein im September belegen. Aber es wäre ein Trug-
schluss zu denken, das sei eine Mode der Jungen,
der Naiven und Ahnungslosen. Fast die Hälfte der
Mitglieder von Facebook ist älter als 35 Jahre.
ein? Diese Drohung hat den Ölpreis
weltweit auf Rekordniveau getrie-
ben, sie wühlt die Regierungen von Washing-
ton über Berlin bis Bagdad auf. Kurioserwei-
se will die Türkei den Irak zugleich befrieden,
als Gastgeber einer großen Außenminister-
konferenz in Istanbul an diesem Freitag. Dort
sollen die Iraker mit den Großmächten und
den Nachbarn – darunter Amerika und Iran
– ihr Land zu einer neuen Ordnung führen.
Doch nach Abschlusserklärung und ausge-
trunkenem Mokka will die türkische Regie-
rung, wenn nötig, ihre Soldaten in den Irak
schicken, um den Terror gegen die Türkei
zu stoppen. Sie könnte keinen größeren Feh-
ler machen.
Die Türkei konfrontiert die Welt mit
zwei dramatischen Geschichten, von denen
eine richtig ist, eine falsch. Hier die richtige:
Die Türkei ist stärker vom Terrorismus be-
droht als viele europäische Staaten. Wenn
ein Türke ein Einkaufszentrum oder die
U-Bahn betritt, muss er sich filzen lassen
wie ein Europäer am Flughafen. Die kur-
dische PKK und ihre Terrorfilialen greifen
regelmäßig türkische Urlaubsorte und Ein-
kaufsstraßen an und überfallen Soldaten.
Was viele Politiker und Generale
in Ankara
verschweigen, sind die zwei Dutzend erfolg-
losen Irak-Interventionen in den neunziger
Jahren. Mit Kopfnicken von Saddam Hus-
sein machte sich die türkische Armee auf
die Jagd nach der PKK, ohne sie je zu besie-
gen. Noch mehr aber verdrängt die Militär-
führung die Folgen eines massiven Ein-
marsches ins irakische Kurdengebiet. Anka-
ra würde sein Verhältnis zu Amerika weiter
beschädigen, selbst wenn Washington Ver-
ständnis für begrenzte Operationen zeigt.
Die EU würde die Beitrittsgespräche mit
der Türkei einfrieren. Wie sollen die Euro-
päer über eine gemeinsame Außenpolitik
mit einem Land verhandeln, das einen Krieg
mit seinem Nachbarn vom Zaun bricht? Im
Nahen und Mittleren Osten, wo die Türkei
sich die Reputation eines besonnenen Mitt-
lers erarbeitet hat, würde sie wieder des
großtürkischen Militarismus geziehen. In
der Türkei selbst würden sich die Kurden
massenhaft mit der PKK solidarisieren. Die
Terrorfalle würde zuschnappen.
Wie können die EU und Amerika den
Krieg noch verhindern? Über die Folgen
eines Einmarsches dürfen sie die Türkei
nicht eine Sekunde lang im Zweifel lassen.
Zugleich sollten die USA die von ihnen
abhängigen Kurdenführer im Nordirak
zwingen, die Lebensadern der PKK zu kap-
pen und ihr die Bewegungsfreiheit zu neh-
men. Die EU könnte unterdessen der Re-
gierung von Tayyip Erdoğan ein kräftiges
»Weiter so!« zurufen. Nicht beim Kriegs-
getrommel, sondern in der Kurdenfrage.
Die Ausweitung der Minderheitenrechte
und der Wirtschaftsaufschwung unter
Erdoğan haben viele Kurden bewogen, bei
der Wahl im Juli für die Partei des Premiers
zu stimmen.
Da staunt der General: Vertrauen ist
eine stärkere Waffe als die Flinten der tür-
kischen Armee und das beste Mittel, den
Terroristen langfristig den Rückhalt in der
Bevölkerung zu rauben. Die Amerikaner
im Irak würden viel darum geben, stünde
ihnen dieser Weg noch offen.
Was ist künftig noch privat
und unantastbar? Was
schreibt man niemals auf? Was verteidigt man mit
allen Mitteln gegen den Staat? Es wird neu verhan-
delt werden, was den Kern persönlicher und damit
bürgerlicher Freiheit ausmacht. Welche Kontrolle
man über seinen Ruf hat. Und wenn sich solche
Konventionen ändern, ändert sich früher oder spä-
ter der Datenschutz. Ändern sich Persönlichkeits-
rechte und Zugriffsrechte des Staates.
Was für ein Wandel! Als die Bundesregierung
Anfang der achtziger Jahre das Volk zählen wollte,
gab es einen Aufstand. Die geforderte, recht allge-
meine Auskunft über die persönlichen Lebensver-
hältnisse – Besitzt man eine Wohnung, gibt es ein
Telefon, welchem Beruf geht man nach? – hielten
Millionen Bürger für unrechtmäßig. Sie sahen darin
einen Kontrollwahn, der ihre persönliche Freiheit
einschränken würde, und bildeten Hunderte von
Bürgerinitiativen. Eine Klage gegen die Zählung
ging bis vors Bundesverfassungsgericht. Und als
später ein kürzerer Bogen verschickt wurde, wei-
gerten sich in Hamburg immer noch etwa 15 Pro-
zent der Bürger, ihn auszufüllen.
Die »Generation Volkszählung« ging auf die
Straße, um dem Staat und der Industrie einen mög-
lichst großen geschützten Raum abzutrotzen, wäh-
rend eine junge Generation jetzt ihre Tür weit auf-
Auch der Staat weitet seine Kontrolle
oft genug
mit Hilfe neuer Techniken aus: Bisher mussten nur
Verdächtige und Verbrecher ihre Fingerabdrücke
nehmen lassen. Doch von Donnerstag dieser Woche
an hinterlegt jeder Bürger, der einen Reisepass be-
antragt, seine Fingerabdrücke in einer Zentraldatei.
Als Nächstes will der Bundesinnenminister die
heimliche Onlinedurchsuchung von Computern
legalisieren. Warum sollte er da nicht auch versu-
chen, sich eine Rasterfahndung in den Sozialen
Netzwerken genehmigen zu lassen?
An dieser Stelle muss man die Betreiber von
Sozialen Netzwerken in Schutz nehmen. Sie halten
sich streng an die Gesetze zum Datenschutz. Sie
weisen Neulinge darauf hin, dass ihre persönlichen
Daten gespeichert und vermarktet werden. Sie er-
wähnen immerhin, dass man sich Letzterem ver-
weigern kann, und meistens gibt es eine sehr sicht-
bare Rubrik »Mehr Privatsphäre«. Aber die Mehr-
heit ignoriert diese Hinweise. Es stört sie nicht, dass
ihre Daten von anderen genutzt werden können.
Niemand kann einen gesellschaftlichen Wandel
verbieten. Aber man kann ihn beeinflussen.
•
Firmen sollten Daten nach einer Frist von we-
nigen Jahren löschen müssen, damit keine lang-
fristigen Persönlichkeitsprofile entstehen, auf die
der Staat oder ein Arbeitgeber zugreifen kann.
•
Die Datenschutzbeauftragten müssen auf neue
Weise für ihre Sache werben. Sie sollten versuchen,
in den Sozialen Netzwerken einen Dialog mit den
dortigen Nutzern zu beginnen. Eine Dokumenta-
tion, wie Internetrecherchen eine Karriere beenden
können, würde einiges bewegen.
•
Wer trotzdem seine Spuren im Internet hinter-
lässt, muss hoffen, dass die Toleranz gegenüber
Skurrilitäten, Fehltritten und Jugendsünden zuneh-
men wird. Dass die Gesellschaft insgesamt noch
liberaler wird. Sie ist auf gutem Weg dorthin.
Die EU und viele europäische
Regierungen
stehen aufseiten der Türkei. Die PKK wird
von der EU nicht mehr als aufständische
Guerillatruppe verharmlost, sondern auf
Terroristenlisten geführt. Viele Europäer
verstehen die Wut der Türken darüber, dass
die PKK unbehelligt ihre Attacken aus den
nordirakischen Bergen plant. Aus Afgha-
nistan weiß die Nato, wie misslich es ist,
dass ihre Feinde, die Taliban, Rückzugshöh-
len im benachbarten Pakistan haben.
Die zweite Geschichte, welche die Tür-
kei der Welt gerade auftischt, ist falsch: die
Mär von einer erfolgreichen militärischen
Intervention im Irak, die zur Beruhigung
der kurdisch besiedelten Gebiete der Türkei
und zum Ende des PKK-Terrors führen
werde. Warum das nicht gelingen kann, zei-
gen die Erfahrungen anderer Länder, zeigt
die Vergangenheit der Türkei selbst.
Es sind zwei mächtige Staaten, die nach
Angriffen auf ihre Bürger in Länder ein-
marschiert sind, welche angeblich oder tat-
sächlich Terroristen beherbergen. Die USA
intervenierten erst in Afghanistan und dann
im Irak, Israel schickte seine Truppen 2006
in den Libanon. In Afghanistan ringt die
Gründe dafür, dabei zu sein,
gibt es viele. Für Ju-
gendliche ist wohl am wichtigsten, sich nicht allein
zu fühlen. Außerdem wollen sie wissen, wie sie auf
andere wirken. Studenten verabreden sich mit ihren
Freunden oder schwatzen schreibend: »Wohin gehst
Du heute Abend?«, oder: »Weißt Du schon, mit
wem Jens zusammen ist?« Wieder andere halten
den Kontakt zu Freunden im Ausland.
Neu sind nicht die Bedürfnisse. Neu ist, dass
jedes Wort gespeichert wird und praktisch kein
Nutzer ein Problem damit hat. So sind die Sozi-
alen Netzwerke zu riesigen Datenbanken des Ge-
schmacks, der Gefühle und des gesellschaftlichen
Status geworden.
Solange nur Prominente wie Ulrich Mühe
und Boris Becker ihr Privatleben ausgebreitet ha-
Im neuen ZEITmagazin
Ein Design-Spezial
über Licht
und Schatten
Licht aus!
Wie unheimlich deutsche
Museen bei Nacht wirken
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Nr. 45
DIE ZEIT
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S. 2
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Nr. 45
DIE ZEIT
POLITIK
Spaziergang
2
31. Oktober 20 07 DIE ZEIT Nr. 45
Als die Kanzlerin vor den Vereinten
Nationen in New York spricht,
hat
CHRISTIAN WULFF
gerade einen
Termin im Zoo von Osnabrück: Er
eröffnet das Gehege für eine Giraffe
namens Edgar. Im Spaziergang mit
Hanns-Bruno Kammertöns erzählt
Niedersachsens Ministerpräsident
vom Leben im Wartestand der Macht
"
WORTE DER WOCHE
»Die SPD ist wieder da.«
Kurt Beck,
SPD-Chef, über das neue Grundsatzprogramm,
das auf dem Parteitag verabschiedet wurde
»Wir brauchen keine Rückbesinnung auf
den Sozialismus wie die Sozialdemokraten.
Vom Sozialismus haben wir mit der DDR
genug gehabt.«
Angela Merkel,
Bundeskanzlerin, über das neue
SPD-Programm
»Und wir brauchen auch mal eine Kanzlerin,
die es nicht unter ihrer Würde empfindet,
sich um das zu kümmern, was die Leute in
Deutschland wirklich angeht, was dringlich
und wichtig ist.«
Andrea Nahles,
neue stellvertretende SPD-Vorsitzende,
über Angela Merkel
»Das hat mich sehr überrascht.«
Roswitha Beck,
Ehefrau von Kurt Beck, über die
hohe Zustimmung bei der Wiederwahl ihres Mannes
zum SPD-Chef
»Ich will daran erinnern, wie sich die
Beziehungen in einer ähnlichen Situation
in der Mitte der sechziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts entwickelt
haben.«
Wladimir Putin,
russischer Präsident, vergleicht die geplante
US-Raketenabwehr in Polen und Tschechien mit der
Kuba-Krise von 1962
»Wenn du Handel mit Iran betreibst, wirst
du Probleme haben, Geschäfte in den USA
zu betreiben.«
Dick Cheney,
US-Vizepräsident, im Fernsehsender CNBC über
Sanktionen gegen ausländische Firmen
»Das Blut von Millionen Irakern klebt
an ihren Händen«
Eine Friedensaktivistin
beschimpft die amerikanische
Außenministerin Condoleezza Rice im US-Kongress
»Das ist keine Droge. Das ist ein Blatt.«
Arnold Schwarzenegger,
Gouverneur von Kalifornien,
über Marihuana
Erste Schritte, erster Kuss und
dann der Wahlkreis. Ein bisschen
viel
OSNABRÜCK
für 48 Jahre?
Das
Wulffs-
"
ZEITSPIEGEL
Lächeln
Aus der Redaktion
In den vergangenen Monaten hat es in der
ZEIT-
Redaktion eine Reihe personeller Ver-
änderungen gegeben.
Bernd Ulrich,
stellver-
tretender Chefredakteur und bisheriger Chef
des Hauptstadtbüros, hat die Leitung des po-
litischen Ressorts übernommen. Stellvertre-
tende Ressortleiter sind
Matthias Krupa
und
Patrik Schwarz.
Der langjährige Politikchef
Martin Klingst
ist als neuer Korrespondent
nach Washington gegangen. An der Spitze
des Hauptstadtbüros steht nun
Brigitte Fehrle,
die zuvor als stellvertretende Chefredakteurin
bei der
Frankfurter Rundschau
tätig war.
Mi-
chael Thumann,
zuletzt verantwortlich für die
Koordination der Außenpolitik, ist als Korres-
pondent nach Istanbul gewechselt und leitet
dort das neu eröffnete
ZEIT-
Büro für den
Mittleren Osten. Neuer außenpolitischer Ko-
ordinator ist
Jan Roß
, zuvor im Berliner Büro
für die Außenpolitik zuständig.
Jochen Bitt-
ner,
bisher Redakteur im politischen Ressort,
berichtet jetzt aus Brüssel. Er löst
Petra Pinz-
ler
ab, die von nun an im Berliner Haupt-
stadtbüro vorwiegend über Europa- und
Wirtschaftsthemen schreiben wird.
Als Berater der Art-Direction ist
Mirko Bor-
sche
vom Magazin der
Süddeutschen Zeitung
zur
ZEIT
gekommen. Art-Director bleibt
Haika Hinze
. Deutlich vergrößert wurde die
Redaktion des
ZEITmagazins LEBEN
. Neu
hinzugekommen sind
Christine Meffert,
Till-
mann Prüfer
(verantwortlich für Stil-Themen)
und
Tanja Stelzer
. Neue Bildredakteurin ist
Usho Enzinger,
in der Gestaltung wird die
Magazin-Redaktion durch
Nina Bengtson
und
Jasmin Müller-Stoy
verstärkt. Neue Redakteu-
rin im Ressort Chancen ist
Jeannette Otto
.
O
snabrück kurz vor zwei am Dienstag-
reits abgestürzt, so sieht er die Welt. Der Opposi-
tionsführer jedenfalls bekam eine dritte Chance,
»auch weil die Partei damals keinen anderen Besse-
ren hatte«, wie er unbekümmert einräumt. End-
lich, im März 2003, wird er ins Amt gewählt, klet-
tert im ZDF-Politbarometer sofort steil nach oben.
Seitdem kommt er aus dem Dementieren kaum
noch heraus. Berlin? Reservekanzler? Ach was!
In kleiner Runde, das bestätigen Gesprächszeu-
gen, kann sich Wulff vieles ganz gut vorstellen.
Seine Verwendung als nächster Parteivorsitzender
der CDU zum Beispiel, dieser Gedanke behage
ihm durchaus, heißt es. Dabei weiß der Kandidat,
dass Kanzlerin Merkel kaum erwägt, den Vorsitz
vorzeitig abzugeben. Also müsste er auch Kanzler
werden wollen, was der Ministerpräsident aller-
dings mit Rücksicht auf die Landtagswahl am 27.
Januar 2008 bestreitet.
Was er denn empfindet, wenn Angela Merkel
vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in
New York über Sicherheitsfragen
redet und er, wie geschehen,
zur gleichen Stunde im
Zoo von Osnabrück
»eine afrikanische Landschaft« für eine Giraffe na-
mens Edgar eröffnet? Wulff lächelt so nachsichtig,
wie er nur kann, es sind seine stärksten Momente.
Wer dies frage, der kenne ihn schlecht. Er antwortet
mit dem Klassiker des weichen Dementis: Berlin be-
deute für ihn, »jedes Leben aufzugeben, jede Nor-
malität, jede Privatheit«. Dieser Preis sei ihm zu
hoch. Dann lieber Edgar.
An einer gelben Ampel in der Nähe des Heger-
tores ist der Politiker stehen geblieben. Genug Zeit
noch, es wenigstens bis zur Mitte der vierspurigen
Straße zu schaffen. Sein Spurt lässt die überraschten
Sicherheitsbeamten zurück. Noch einmal kommt
er auf die Giraffe zu sprechen, ein wundersames
Wesen irgendwie. Es habe einige Kraft gekostet,
das Tier in das neue Gehege zu bugsieren, ihm das
neue Heim schmackhaft zu machen. Ob die Giraf-
fe womöglich einfach keine Lust hatte auf Afrika in
Osnabrück? Die Giraffe wäre eben lieber in ihrem
angestammten Revier geblieben, vermutet Wulff,
»da gab es nette Tierpflegerinnen, beste Fütte-
rungszeiten und wahrscheinlich die Angst, in
die Freiheit entlassen zu werden«. Was
man daraus lernen könne, vielleicht so-
gar für die Politik? »Auf die Ermuti-
gung kommt es an«, meint der Mi-
nisterpräsident, »auf das Mitnehmen
der Menschen in etwas Neues.«
Bei den letzten Sätzen ist Wulff
sehr laut geworden – er muss es,
vor und hinter ihm lärmen die Au-
tos. Als ein Betonlaster bremst, muss
Wulff fast schreien, um sich ver-
ständlich zu machen. Doch kaum ist
die Fachwerkkulisse der Fußgängerzone
erreicht, fährt er die Stimme wieder auf
ein kommodes Maß herunter. Stundenlang
könnte man ihm nun zuhören; von diesem Mann,
so das gute Gefühl, sind tiefe Verstörungen nicht
zu erwarten. Je tiefer er sich in eine Materie hinein-
redet, desto aromatischer wird seine Sprache. Ap-
felfrische Substantive, gerne knackige Verben. Es
wird schon alles gut.
Was natürlich nicht stimmt. Er hat Etats zu-
sammengestrichen, auch den seiner Staatskanzlei.
Einmal in Schwung, hat dieser Ministerpräsident
alle Bezirksregierungen abgeschafft, sodass den Be-
amten die Tränen kamen. Dann war die Streichung
des Blindengeldes an der Reihe. Darüber spricht
Wulff nur zu gerne. Die Reformen in Land und
Bund müssten sein, davon ist er überzeugt. Aller-
dings sei bei der Umsetzung zu beachten, was er
auch bei Nelson Mandela in dessen Autobiografie
gelesen habe: Die beste Führung sei die von hinten,
gute Hirten sorgten so dafür, dass kein Schaf verlo-
ren und die Herde stramm nach vorne gehe.
Und wenn einmal doch nicht alles gut ist?
Beispiel Karmann, der Cabriospezialist in Os-
nabrück, größter Arbeitgeber der Region. Weil die
Aufträge ausbleiben, will das Unternehmen bis
Ende nächsten Jahres knapp 1800 von insgesamt
5000 Jobs aufgeben. Karmann? »Unser größtes
ungelöstes Problem«, stößt Wulff hervor, aber ei-
gentlich sei »die Firma finanziell gesund, nur seit
fünf Jahren ohne neuen Auftrag für ein Komplett-
fahrzeug«. Anschlussaufträge für den Mercedes
CLK fehlten, für den Chrysler Crossfire. Die Au-
tomobilkonzerne seien in ihren eigenen Fabriken
nicht ausgelastet, darum entstünden nun in Osna-
brück die Probleme.
Wulff will die Manager schleunigst daran erin-
nern, wie kostbar der Standort sei. »Von der Kon-
zeption bis zur Auslieferung ein Rekordtempo«,
lobt er die bedrohte Firma. Manchmal sei »Schnel-
ligkeit wichtiger als der Preis«, meint der Landes-
vater, es klingt wieder sehr optimistisch.
Selbst wenn er die Absicht gehabt hätte, die Kri-
se und deren Lösung ausführlicher zu erläutern,
Wulff kommt nicht dazu. An einem Halteplatz un-
weit vom Dom ist ein Taxifahrer aus seinem
Mercedes gesprungen. Der Mann – »Ich glaub es ja
nicht!« – ist kaum zu halten. Er will ein Foto von
sich und dem Ministerpräsidenten, den Apparat
hält er schussbereit in der Hand. Wulff zögert einen
Augenblick, dann lässt er sich etwas sperrig in den
Arm nehmen. Er wünscht dem Mann »noch einen
schönen Tag«. Der wird ihn wählen, das steht fest.
Von sich aus kommt Christian Wulff noch ein-
mal auf die Koordinaten seines Lebens zurück: zum
einen Osnabrück, zum anderen Helmut Kohl.
Kohl am Morgen, Kohl am Abend – in seiner
Jugendzeit hing ein Poster des Idols in seinem
Zimmer. Irgendwann kam das Vorbild von der
Wand. Christian Wulff stieß zu den sogenannten
»jungen Wilden« der Partei. Er begann, sich gegen
Helmut Kohl zu profilieren, nervte, drängte bei
der Affäre um die Parteispenden rigoros auf Auf-
klärung. »Es kam zu einem tiefen Streit«, sagt
Wulff. Schließlich das Happy End: »Es ist mir
wichtig, dass sich unser Verhältnis wieder normali-
siert hat.« Dankbarkeit schwingt mit, wenn er auf
die alten Zeiten zu sprechen kommt und die Gele-
genheit, die Kohl ihm bot.
Wie man sich eine solche Eskalation unter Po-
litikern vorstellen könne? Gibt der Jüngere klein
bei? Wie sind die Regeln? Wulff schüttelt den
Kopf. Er braucht ein paar Augenblicke, um sich
die Erinnerung zurechtzulegen. »Der schärfste Satz
von Helmut Kohl ist in einer Bundesvorstandssit-
zung gefallen. Sein Vorwurf: Ich hätte mich mit
meinem Verhalten außerhalb der Kameradschaft
gestellt – das war schon heftig.«
Christian Wulff, der »junge Wilde«. Das Stirn-
band des roten Korsaren hat er nie getragen, nie an
Müllcontainern gezündelt wie angeblich der Par-
teifreund Friedrich Merz. Den krummen, schwie-
rigen Weg habe er nie vermisst, erklärt er. »Einmal
im Leben den Wunsch verspürt, auf die Sahne zu
hauen?« Die Frage stellt er sich selber und liefert
die Antwort gleich mit: »Nein.« Keine Lust, zu
probieren, ob das Eis auf dem See schon trägt?
»Nein, ich muss nicht an die Grenzen gehen, ich
brauch das nicht.« Nach einem solchen Satz lä-
chelt der Ministerpräsident einen Augenblick lang
zufrieden in die Kamera der
ZEIT-
Fotografin.
Das ist viel bei ihm. Auch mit zunehmendem
Alter hat er eine Schwäche nicht beheben können:
sich, wie bei diesem Spaziergang, fotografieren zu
lassen und zugleich Fragen zu beantworten. Wulff
versteht nicht, warum ihn diese doppelte Anforde-
rung immer wieder blockiert. »Ich kann jeweils nur
eines.« Er weiß noch, wie es war, als er einmal in
einer Fernsehtalkshow in die Verlegenheit kam. Je-
mand hatte Geburtstag, er sollte in der Runde Ku-
chen verteilen und dabei gescheite Antworten ge-
ben – daran ist Wulff damals fast verzweifelt.
Er schweigt ein paar Minuten lang. Als der Mo-
ment des Abschieds gekommen ist, erwähnt er bei-
läufig, dass er die Freizeit jetzt zunehmend in Han-
nover verbringe, dort wohne seine Freundin. Die
neue Beziehung sorgt auch für eine Veränderung bei
seinem Urlaubsverhalten. Mit seiner Frau fuhr der
Ministerpräsident früher gerne nach Borkum. Das
ist nun anders, heute geht es öfter mal nach Capri.
mittag. Weil weder vor noch hinter dem
Rathaus verdächtige Personen auszuma-
chen sind, hat Herr Müller vom Lan-
deskriminalamt eben sein Handy genommen und
sein »Okay« durchgegeben. Im Falle einer Gefahr
hätte Müller der Wagenkolonne des Ministerpräsi-
denten das Zeichen zum Abdrehen gegeben. Also
rollt der Trupp heran, pünktlich um zwei fallen hin-
ter dem Rathaus Autotüren ins Schloss. Weil er sich
hier auskennt, nimmt Christian Wulff den Hinter-
eingang und tritt dann durch den Vordereingang leicht
majestätisch hinaus ins Freie – in die Sonne Nie-
dersachsens hinein.
Freundlich lächelnd federt der 48 Jahre alte Po-
litiker die Treppenstufen hinunter, zu seinem hell-
blauen Wollpullover und dem offenen Hemd trägt
der »Krawattenmann 2006« eine Jeans, die seine
jugendliche Erscheinung dezent unterstreicht. In
seiner Freizeit geht Wulff gerne spazieren, beson-
ders in seiner Heimatstadt. Also hat er auch für die-
sen Spaziergang Osnabrück vorgeschlagen. Seine
Freude über die Gelegenheit, mal wieder hier zu
sein, scheint nicht gespielt. Hier ist er geboren und
aufgewachsen, Gymnasium, Schülerunion, der ers-
te Kuss an einer Haltestelle, Studium, der Wahl-
kreis später – alles Osnabrück. Man kann das ein
bisschen viel finden oder ein bisschen wenig.
Christian Wulff erweckt den Eindruck, als
könne er von Osnabrück nicht genug kriegen.
Wohlig beginnt er seine Hände zu reiben, dann
klopfen die Fingerspitzen energisch gegeneinan-
der. Wulff öffnet die Arme, wie es Politiker gerne
tun, wenn sie wollen, dass die Fotografen endlich
ihre Bilder machen. »Eine schöne Stadt, und lie-
benswürdig weltoffen!«, ruft er aus, wenngleich
noch nicht überall genug bekannt: »Die etwas Ge-
bildeten denken an den VfL Osnabrück, an die
Neue Osnabrücker Zeitung.
Die noch Gebildeteren
wissen vom Westfälischen Frieden von Münster
und Osnabrück im Jahre 1648 – und die ganz
Schlauen können sogar sagen, wie lange der Drei-
ßigjährige Krieg gedauert hat.«
Auch er selber lacht nur kurz, dann zeigt Wulff
auf ein Wasserspiel ein paar Schritte vom Rathaus
entfernt. Er geht voraus, dann fahren seine Hände
wieder durch die Luft: der Bürgerbrunnen! »Er
zeigt anschaulich Stadtgeschichte, zum Beispiel
die Pest im Mittelalter«, erläutert der Ministerprä-
sident leicht enthusiasmiert, »wie sie die Menschen
dahinrafft – zu Tausenden in den Tod treibt.«
Gebeine und Skelette ohne Zahl, schaurige
Szenen aus der Zeit der Hexenverfolgung. Eine
Arbeit des Bildhauers Hans Gerd Ruwe, eines Os-
nabrücker Künstlers, dessen Arbeiten der Politiker
offenbar schätzt. Wulffs Augen wandern noch ein-
mal bewundernd über die detailgetreuen Figuren,
den kleinen Wasserfall, dann setzt er den Weg fort,
vorbei an einer Bank, auf der es sich vier Jugendli-
che bei einem Eis bequem gemacht haben. Sie
schauen nicht hin, sie interessieren sich weder für
den Brunnen noch für Wulff.
Dabei ist er der jüngste deutsche Ministerpräsi-
dent, er zählt zu den beliebtesten Politikern im
Land, weil er, so heißt es über ihn, unermüdlich
gern auf die Menschen zugehe. »Kennedy von der
Leine« wurde Wulff schon genannt, ein Mann, ge-
rühmt für seinen Charme, seinem innerparteilichen
Konkurrenten Roland Koch aus Hessen schon op-
tisch überlegen. Zweimal trat dieser Christian
Wulff als Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in
Niedersachsen an, zweimal verlor er und erlebte
»die Tiefe der Ebene«. Wer nicht aufsteigt, ist be-
Osnabrück
"
Auf Heimatsuche
Christian Wulff wurde am 19. Juni 1959
in Osnabrück geboren. Seine Eltern
trennten sich, als er zwei Jahre alt war.
Mit 14 verlor er seinen Stiefvater, seine
Mutter erkrankte an multipler Sklerose.
Wulff, dem Schüler-Union und CDU zur
Ersatzfamilie wurden, ist heute der
jüngste Ministerpräsident in Deutsch-
land. Neben Roland Koch gilt er als mög-
licher Nachfolger von Angela Merkel im
Kanzleramt. Beide Landespolitiker stel-
len sich 2008 ihren Wählern. Wulff geht
gerne spazieren, besonders in der Alt-
stadt von Osnabrück. Gut zwei Stunden
hat er sich für den Rundgang und das
Gespräch reserviert.
"
NÄCHSTE WOCHE IN DER ZEIT
Happy Birthday, Astrid Lindgren!
Die Mutter
von Pippi Langstrumpf wäre in diesem Jahr
100 Jahre alt geworden. Die berühmteste
Kinderbuchautorin der Welt hat alle Zeitströ-
mungen überlebt und ist heute populärer als
je zuvor. Wir gratulieren! Außerdem: Ein In-
terview mit Lindgrens Tochter über ihre erste
Begegnung mit Pippi
LITERATUR
»Ich will nicht als Idiotin sterben!«
Die
Chanson-Legende Juliette Greco spricht über
ihre Liebe zu Männern und zu Frauen, die
Macht der Stimme und den Zauber, der je-
dem Auftritt immer noch innewohnt.
Ein ZEIT-Gespräch aus Anlass ihrer beiden
bevorstehenden Auftritte im November in
Deutschland
Audio
a
www.zeit.de/audio
FEUILLETON
S.2
Nr. 45
DIE ZEIT
SCHWARZ
cyan
magenta
yellow
S. 3
SCHWARZ
cyan
magenta
yellow
Nr. 45
DIE ZEIT
POLITIK
3
31. Oktober 20 07 DIE ZEIT Nr. 45
25 OOO
marschieren
bis in die
Hauptstadt,
um sich gegen
die Vertreibung
von ihrem
Grund und Boden
zu wehren
Wo ist unser Land?
E
in Bild wie von Brecht, Lumpenproletariat
Protestmarsch nach Delhi:
Zwei Tage mit den Vergessenen
des indischen
Wirtschaftswunders
VON NAVID KERMANI
Bei Agra/Indien
Landwirtschaft, die zwei Drittel der arbeitenden Be-
völkerung beschäftigt, wächst seit Jahren nur minimal.
Auch die Nahrungsmittelproduktion stagniert, sodass
der durchschnittliche Kalorienverbrauch nach staatli-
chen Statistiken sogar abnimmt. Der Verfall der Preise,
der Abbau von Subventionen sowie die Senkung der
Zölle für Einfuhren aus China, Pakistan und den Ver-
einigten Staaten haben viele Bauern in den Ruin ge-
trieben. Derzeit begehen pro Jahr etwa 12 000 Bauern
Selbstmord, nicht berücksichtigt die Dunkelziffer.
Niemand in Indien würde bestreiten, dass das Elend
weiterhin jeder Beschreibung spottet, schon gar nicht
die regierende Kongresspartei mit ihren linken Koali-
tionspartnern, die den Wahlkampf mit sozialen Ver-
sprechungen bestritten haben. Das Parlament hat vor
Kurzem ein Gesetz verabschiedet, das jeder Familie ein
Minimum von 100 Tagen Arbeit im Jahr garantiert.
Aber die Wirtschaftspolitik des Landes und ein großer
Teil des öffentlichen Diskurses gehen von der Annah-
me aus, dass der wachsende Reichtum nach unten
durchsickere. Mittelbar würden so auch die Ärmsten
vom freien Markt profitieren, durch höhere Steuerein-
nahmen, durch einen Ausbau der Infrastruktur und
neue Arbeitsplätze. Stimmt das, stimmt es vor allem
auch für die ländliche Bevölkerung? Der Bundesstaat
Gujarat, in dem die Wirtschaft landesweit am schnells-
ten wächst, verzeichnet zugleich eine der höchsten
Selbst mord raten von Bauern.
nötig. Viele Familien bewirtschaften seit Generationen
ihr Stück Land, ohne durch Papiere als Eigentümer
ausgewiesen zu sein. Eines Tages steht vor der Hütte
ein Anwalt mit einem Kaufvertrag, den sein Mandant
mit dem Staat abgeschlossen hat. Die 25 000 Men-
schen, die zum Parlament nach Neu-Delhi marschie-
ren, sind keine Unterstützerbewegung, sondern durch-
weg Betroffene.
Bei Babam Saharia kam das Forstamt vorbei, das
Forst Department, um genau zu sein. Als Angehöriger
eines sogenannten primitiven Stammes ist er in den
Wäldern aufgewachsen, lebte wie seine Vorfahren von
allem, was an und unter den Bäumen gedeiht, Früch-
ten, Nüssen, Linsen. Papiere, die sie als Eigentümer
auswiesen, hatte niemand. Ein Großgrundbesitzer aus
der Gegend kaufte das Stück Land, das Babam Saharia
und seine Nachbarn bewirtschafteten – indem der
Großgrundbesitzer die Beamten bestach, ist sich der
40-jährige dürre Mann mit den beinah weißen Haaren
sicher. Forstwächter standen mit Waffen vor seiner
Hütte, auch die Polizei. Die Bauern wurden mitsamt
ihren Familien zusammengetrieben, auf die Ladefläche
eines Lkw gepfercht und hinter den Bergen abgesetzt.
Wenn ihr zurückkehrt, töten sie euch, gaben ihnen die
Bewacher mit auf den Weg. »Wann geschah die Ver-
treibung?«, fragt der Besucher. »1983.« – »1983? Aber
da waren Sie doch erst sechzehn Jahre alt.« – »Ich lebte
damals schon mit meiner Frau. Die Kinder kamen
später.« – »Und die Frau?« – »Ist gestorben.«
Saharia wurde Landarbeiter, ohne die Hoffnung
aufzugeben, seinen Boden zurückzugewinnen. Die
Fußsohlen vollständig auf dem Boden, sitzt er in der
Hocke und holt aus seinem Styroporbeutel die Briefe
hervor, die er und seine Nachbarn seither verschickt
haben. Auf manchen Briefen ist eine handschriftliche
Notiz eines Beamten, einmal sogar des Forstministers
auf Englisch zu erkennen, im Sinne des Gesuchstellers.
Aber nichts geschah, meint Saharia bitter. Einmal hat
er dem Großgrundbesitzer aufgelauert, ihn angegriffen,
mit bloßen Händen, wie er betont. 22 Tage saß Saha-
ria dafür im Gefängnis. Vor einigen Jahren hat er sich
der Bewegung Ekta Parishad angeschlossen, dem »Ver-
einigten Forum«, das den Widerstand gewaltfrei und
mit Hilfe ehrenamtlicher Anwälte betreibt.
Unfassbar sind Organisation und Disziplin. Der
Jeep, der sich den Weg bahnt, gleitet wie durch Wasser,
so geschmeidig öffnen sich die Reihen und schließen
sich hinter dem Auspuff wieder. Pro Tausendschaft
fährt ein Lastwagen mit den Lebensmitteln zu den
Lagerplätzen voraus. Das Wasser füllen sie kostenlos
an Tankstellen auf. Eine warme Mahlzeit täglich ken-
nen die wenigsten von zu Hause. Nach dem Essen
breitet sich entspannte Geschwätzigkeit aus. In Grüpp-
chen sitzen die Menschen auf der Straße wie früher die
Friedensdemonstranten in Mutlangen. Dann, wie auf
ein Signal, wieder Geschäftigkeit, da sich vor Einbruch
der Dunkelheit noch alle gründlich reinigen, die Frau-
en vor den Wasserwagen, die Männer meistens vor
Schläuchen, mit denen sie sich gegenseitig abspritzen,
stets mit Seife, die zugleich als Shampoo dient und den
Frauen als Waschmittel für ihre Saris. Verblüffend ihre
Geschicklichkeit, die Scham zu bewahren, wogegen
die Westler ziemlich verschlissen aussehen. Neben der
Straße sind Gräben ausgehoben, quer darüber Holz-
bretter. Stöcke ragen aus der Erde, um die eine blau-
weiße Plastikplane so herumgeführt worden ist, dass
die 500 Toietten Kabinen haben.
Dass Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger die Au-
tobahn von Frankfurt nach Köln auch nur einen Tag
blockieren dürften, wäre undenkbar. In Indien legt es
keine Regierung auf eine Konfrontation an, weder in
den Bundesstaaten noch in der Hauptstadt, weil die
Demonstranten die Untersten der Gesellschaft reprä-
sentieren, damit die Mehrheit der Wähler. Der Land-
wirtschaftsminister, der sein Erscheinen angekündigt
hatte, entschuldigte sich kurzfristig mit einer Kabinetts-
sitzung. Enttäuschung mischte sich in die Erschöpfung
der Teilnehmer, dazu die Kälte bei Nacht, die sie auf
dem Asphalt oder dem Feld verbringen. Wohlhabende
Inder haben Decken gespendet, das Stück für ein oder
zwei Euro, aber es sind viel zu wenige. Entlang der ge-
samten Strecke verteilen Hausfrauen Gebäck, singen
Schulkinder Ständchen und sprechen Lokalpolitiker
Grußworte. Aus Delhi oder Mumbai fährt gelegentlich
ein Intellektueller oder ein Schauspieler vor, der einen
Nachmittag lang mitmarschiert. Ein ständig lächelnder,
weiß gewandeter Heiliger mit langem schwarzem Bart,
der sich dem Zug angeschlossen hat, hat bereits 4000
Schuhe gesammelt. Er selbst läuft barfuß.
formiert und wehrt sich: 25 000 Menschen,
die in drei Reihen marschieren, die meisten
in Gummisandalen, viele barfuß, in der
Mitte die Frauen in bunten Saris, außen
die Männer in cremefarbenen Hemden und ebensolchen
Dotis, den um die Beine geschlungenen Tüchern. Die
Männer tragen ihr Bündel aus Plastikfolie auf der
Schulter, die Frauen balancieren es auf dem Kopf. Je-
der Einzelne hält einen langen Stock mit einer grün-
weißen Fahne von »Ekta Parishad« in der Hand, der
indischen Landrechtsbewegung. Zwischen den Reihen
Platz für die Ordner, Musiker und Sänger, nötigenfalls
Jeeps oder andere Fahrzeuge. Vor jeder Tausendschaft
ein Traktor, der einen Wassertank zieht, dahinter eine
Fahrradrikscha mit zwei großen Lautsprechern aus
Blech, einer nach vorne, einer nach hinten gerichtet.
Es ist so laut wie fast immer in Indien.
Ein Protest der Ärmsten, Machtlosen, der Verges-
senen und Zurückgelassenen des indischen Wirtschafts-
wunders: kann er überhaupt etwas bewirken, sich
Gehör verschaffen? Ein Hoffnungszeichen ist an diesem
Montag gekommen. Am Wochenende hatten die Bau-
ern das Zentrum Delhis erreicht. Noch in der Nacht
werden sie von der Polizei eingekesselt. Am Telefon
berichteten Teilnehmer aufgebracht, dass sie auf dem
Platz keinen Zugang zu Wasser, Nahrung oder sanitären
Anlagen hätten. Die Hauptstadtpresse war bald vor
Ort, Fernsehteams, auch BBC und CNN. Montag-
mittag dann die Ankündigung: Der Landwirtschafts-
minister will eine Kommission einrichten, an die sich
jeder Inder wenden kann, der illegal von seinem Boden
vertrieben wurde. Die Landlosen würden daran betei-
ligt. Eine Hauptforderung des Protestmarschs könnte
sich erfüllen.
Die Gesichtszüge und -farben der Marschierer sind
in jeder Tausendschaft anders, auch die Muster der Sa-
ris, der Schmuck, die Zurückhaltung oder Selbstsicher-
heit der Frauen, die Sprache, weil die Marschierenden
aus ganz Indien stammen. Viele Demonstranten sind
schon alt, Greise unter ihnen, damit in ihren Dörfern
die Jüngeren weiterarbeiten können, obschon der Be-
sucher später feststellen wird, dass die Kastenlosen,
Angehörigen der unteren Kasten und Stammesmit-
glieder schon mit 50 aussehen wie Europäer mit 80. Seit
zwölf Tagen marschieren sie, 150 Kilometer bereits,
200 Kilometer stehen ihnen noch bevor, bis sie Delhi
erreichen. Hinter der Leitplanke staut sich der Verkehr.
Nicht alle Autofahrer wirken begeistert. Aus Busfenstern
knipsen Japaner.
Indien boomt. Über neun Prozent Wirtschafts-
wachstum jährlich, weltweit konkurrenzfähig die In-
formationstechnologie, Pharmazie, Biotechnologie,
Raumfahrttechnik, Nuklearindustrie und natürlich der
Dienstleistungssektor, der inzwischen nicht mehr nur
Aufträge aus dem Westen abzieht, sondern auch Mit-
arbeiter. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt investiert
der indische Staat mehr Geld in Forschung und Ent-
wicklung als die Bundesrepublik Deutschland. In den
Städten sind die Zeichen wachsenden Wohlstands un-
übersehbar, an dem vielleicht 200, vielleicht 250 Mil-
lionen Menschen wenigstens indirekt partizipieren, die
Mobiltelefone, Hochhäuser und Shopping Malls.
Nun sind 250 Millionen Konsumenten zwar ein
gewaltiger Markt für Konzerne, für Indien aber eine
vergleichsweise geringe Zahl. 750 Millionen Inder ha-
ben wenig oder gar nichts vom Wirtschaftswachstum.
Auf dem Human Development Index der Vereinten
Nationen liegt Indien daher auf Rang 126, noch hin-
ter seinem Nachbarn Sri Lanka und nur knapp vor
Bangladesch. Fast die Hälfte aller Kinder ist unterge-
wichtig, prozentual mehr als in Äthiopien. Die indische
Das zentrale Begehr der Demonstranten
ist verblüf-
fend moderat. Keine Umverteilung, keine Enteig-
nungen, nicht einmal neue Gesetze – die Regierung soll
lediglich die Landreform, die in der Verfassung veran-
kert ist, umsetzen und den öffentlichen Boden an die
Landlosen verteilen. Außerdem jene Kommission, die
den Vertriebenen zu ihrem Recht verhelfen soll. Bis
jetzt, so die Bauern, würden sie mit ihren Anliegen vom
Distrikt an den Bundesstaat und vom Bundesstaat nach
Delhi verwiesen – und wieder zurück. »Wir setzen auf
den Dialog mit den Politikern, nicht auf Konfrontati-
on«, betont der Führer von Ekta Parishad, den alle nur
Rajagopal nennen, ein sanfter Mann von knapp sechzig.
Seine Bewegung ist den Idealen Gandhis verpflichtet
und setzt sich damit von den Naxaliten ab, der maois-
tischen Widerstandsgruppe, die im Nordosten Indiens
inzwischen ganze Landstriche kontrolliert.
Natürlich geht es Rajagopal um mehr als um eine
neue Behörde. Er will die Politiker und überhaupt die
indische Öffentlichkeit davon überzeugen, die Indus-
trialisierungspolitik des Neuen Indiens zu überdenken,
die zu einer systematischen Zerstörung der kleinbäu-
erlichen Landwirtschaft geführt habe. »Die indische
Mittelklasse ist es, die wir gewinnen wollen«, meint
Rajagopal. »Sie müssen erkennen, dass die Armut, die
sich ausbreitet, letztlich ihren eigenen Wohlstand, ihre
eigene Sicherheit bedroht.« Die Bauern, die ihre Le-
bensgrundlagen verloren hätten, würden zwangsläufig
in den Slums der Großstädte landen. »Niemand mag
Slums vor der Haustür haben. Slums gelten den Bür-
gern als schmutzig, als Quell von Krankheit, Gewalt
und Kriminalität. Also sagen wir: Hört endlich auf,
ständig neue Slums zu produzieren.« Doch die indische
Mittelklasse schaue wie gebannt in den Himmel der
Globalisierung, verblendet durch den eigenen ökono-
mischen Aufstieg und die Segnungen des Konsums:
»Es wird Zeit brauchen, bis sie merken, dass unter ih-
nen der Boden wegbricht.«
Ram Paydiri aus dem Dorf Kali Pari im Distrikt
Shivpuri, Bundesstaat Madhya Pradesh, will dem Be-
sucher die Füße küssen, als sie erfährt, dass er im Aus-
land über den Marsch berichtet. Sie ist Witwe, 50
Jahre alt, weiße Haare, von ihrem Hektar Land vertrie-
ben vor langer Zeit, auch sie verprügelt, darf nicht
einmal in die Nähe ihres Bodens kommen, die vier
Kinder in die Stadt ausgewandert. An guten Tagen
erwischt sie einen Job, auf dem Feld oder irgendeine
Handarbeit, 50 Rupien für sie weiß nicht wie viele
Stunden, ein Euro umgerechnet, lebt in einer Hütte
aus Stroh. Warum sie dabei war? »Wir sind bereit zu
sterben, um unser Land wiederzubekommen.« Was
macht sie, wenn sie zurückkehrt? »Weiterarbeiten.«
Und was, wenn sie alt ist, gebrechlich? »Arbeiten, so-
lange ich Beine und Hände habe.« Aber wenn sie nicht
mehr arbeiten könne? Sie sei doch ganz allein. Ram
Paydiri versteht nicht.
Gewöhnlich sieht man
die spindeldürren Unterschen-
kel der Männer nur vereinzelt oder aus der Entfernung,
wenn man mit dem Zug aus der Stadt fährt, in den
Hütten entlang der Gleise, oder dann auf den Feldern
mit Strohballen auf dem Rücken oder Reisig, die fal-
tigen Gesichter, die Haut manchmal stumpf wie ab-
genutztes Leder, außerdem der elegante Gang selbst
der ältesten Frauen, zumal im Vergleich mit den 50
Unterstützern aus dem Westen. 25 000 Menschen
unter der Sonne sind eine schier endlose Prozession,
erst recht, wenn man sie zwischen zweien der drei Rei-
hen überholt. Einmal, fast schon vorne angekommen,
macht der Besucher Rast an einer Tankstelle. Bis der
Jeep eintrifft, der ihn wieder nach vorne bringt, schaut
er mit dem Tankwart, der ihm Wasser und einen Stuhl
anbietet, dem Menschenstrom zu.
»Arme Leute«, sagt der Tankwart, dessen Eltern
noch auf dem Feld gearbeitet haben. Er selbst hat Au-
tomechaniker gelernt und freut sich, dass immer mehr
Leute unterwegs sind auf der Autobahn zwischen
Mumbai und Delhi. Leider nur werden die Autos im-
mer komplizierter gebaut, mit immer mehr Elektronik,
die nur die Vertragswerkstätten beherrschen. Wenn
seine jüngste Tochter weiter so fleißig ist, darf sie auf
die englischsprachige weiterführende Schule. Dann
wird sie eines Tages vielleicht auch bei ihrem Vater
tanken. »Sehr arme Leute«, antwortet der Besucher.
»Was wollen sie?« – »Sie wollen Land. Sie wollen Land,
um leben zu können.«
»Macht die Landlosen zu Bauern« hieß ein Slogan
Mahatma Gandhis, der nach der Unabhängigkeit in
einer umfassenden, freilich unvollendet gebliebenen
Landreform mündete. Heute geschieht täglich das
Umgekehrte: Aus Bauern werden Landlose. Wo Bo-
denschätze entdeckt, Fabriken gebaut, multinationale
Konzerne angesiedelt werden oder eine der vielen steu-
erfreien Sonderwirtschaftszonen eingerichtet wird,
haben die Bewohner selten eine Chance. Gedeckt von
Politikern und Beamten, die mit Einnahmen für den
öffentlichen und oft genug ihren privaten Haushalt
rechnen dürfen, rücken private Sicherheitsdienste oder
gleich die Polizei selbst an, um jene Bauern zu vertrei-
ben, die ihren Boden nicht für ein paar Rupien verkau-
fen. Oft ist nicht einmal pro forma ein Kaufangebot
Navid Kermani,
Deutscher und
Iraner, Schriftsteller und
Orientalist, hat Reportagen,
Essays und zuletzt den Roman
»Kurzmitteilung«
veröffentlicht. Nun hat er
Indien bereist. Der Artikel ist
der erste einer lockeren Folge
Fußmarsch der Landlosen
CHINA
Delhi
INDIEN
Farid Abad
Palwal
Vrindavan
Mathura
Agra
Morena
INDIEN
Gwalior
50 km
ZEIT-Grafik
S.3
Nr. 45
DIE ZEIT
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S. 4
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Nr. 45
DIE ZEIT
4
POLITIK
31. Oktober 20 07 DIE ZEIT Nr. 45
KARL MARX,
Ökonom und
Kommunist
OSKAR
LAFONTAINE,
ganz Linker
FRANK BSIRSKE,
Gewerkschafts-
führer
ANDREA
NAHLES,
linkes Talent
KURT
BECK,
Parteiführer
JÜRGEN
RÜTTGERS,
Arbeiterführer
GÜNTHER
BECKSTEIN
,
Bayernführer
Die SPD geht nach links ...
Nach dem Parteitag in Hamburg: Die Sozialdemokraten beenden ihren Streit und genügen sich selbst
VON TINA HILDEBRANDT
M
it fast hundert Prozent einen Vorsit-
vor Schröder nur wenig Applaus einheimst, als er
die Verteilungsgerechtigkeit verteidigt.
Gestalten müsse vor Erdulden gehen, sagt der
neue Vorsitzende Kurt Beck, dessen Rede allerdings
vom Publikum stärker erduldet, als von Beck gestaltet
wird. Egal, das Parteivolk ist nicht darauf aus, seinem
neuen König der Herzen am Zeug zu flicken, es will
die Stärke beglaubigen, die Beck zuvor im Streit mit
Müntefering demonstriert hatte, und so geraten die
95,5 Prozent Zustimmung bei der Wahl des Partei-
vorsitzenden zum letzten Beweis, dass dessen 90-mi-
nütige Ansprache nicht wirklich gebraucht wurde.
So ziellos wirken die Worte des SPD-Chefs, dass
den meisten nicht auffällt, dass Beck die Freiheit von
der ersten an die letzte Stelle der sozialdemokratischen
Grundwerte und die Solidarität an die erste sortiert
hat – was würde Willy Brandt dazu sagen? Eine Rich-
tung oder gar ein Ruck lässt sich aus Becks Worten
dennoch nicht ablesen und schon gar nicht aus der
Wahl seiner Stellvertreter: Das beste Ergebnis be-
kommt Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit
85,5 Prozent, das zweitbeste nicht wie erwartet die
Parteilinke Andrea Nahles (74,8 Prozent), sondern
Finanzminister Peer Steinbrück (75,4 Prozent), der
lauteste Verfechter einer Regierungs-SPD.
fang mal an«, habe »der Onkel« nach einer länge-
ren Zeit des Schweigens geknurrt, »aber pass auf,
dass du nicht vertrocknest.« Er habe den Satz da-
mals zwar nicht verstanden, aber behalten, weil er
so merkwürdig war. Mindestens so kryptisch ist
allerdings der Satz, den Müntefering dann sagt:
»Ich wollte euch heute nur sagen: Es ist noch was
da. Ich bin noch nicht ausgetrocknet.«
Man kann das als versöhnlich-selbstironische
Geste deuten, weil Müntefering gelegentlich vorge-
halten wird, er entwickle geradezu Breschnew-hafte
Züge. Man kann es aber auch als Ansage an Beck
betrachten, dass mit dem Vizekanzler noch zu rech-
nen sei. So begeistert ist der Beifall, dass Müntefering
findet, er könne Beck ruhig etwas davon abgeben.
Eigentlich hat er sich gesetzt, doch dann steht er noch
einmal auf und sammelt auf dem Rückweg zum Pult
den Parteivorsitzenden ein. Und plötzlich ist gar nicht
mehr so sicher, wer hier der Sieger ist.
Es ist ein Parteitag der widersprüchlichen Si-
gnale. Der Parteichef, der einen Kurswechsel ein-
geleitet hat, wird gefeiert, aber die Regierungsriege
wird ebenfalls gestärkt. Reformen oder Rückfall?
– vielleicht ist das doch nicht die Alternative, viel-
leicht gibt es eine neue SPD, die keine Agenda-
SPD ist, aber auch keine Wiedergängerin aus den
siebziger oder achtziger Jahren.
Wie links ist die neue SPD, und wie alt ist das
Neue? Diese Frage stellt sich auch in der Debatte um
die Bahnreform. Wochenlang hat eine Kommission
aus Befürwortern und Skeptikern an einem Kom-
promissvorschlag gebastelt. Und obwohl sich die
Parteitagsregie bis an die Grenze der Unverschämtheit
bemüht, nur den Kompromissanwälten das Wort zu
geben, obwohl Kurt Beck »herzlich« um Zustimmung
gebeten hat, wird nach allerkürzester Zeit klar: Die
Partei will diesen Kompromiss nicht – und sie schlägt
den Parteivorsitzenden mit seinen eigenen Waffen.
Die Menschen nämlich, auf die sich Beck immerzu
beruft, sagt der frühere Bundestagsabgeordnete Peter
Conradi, wollten keinen »Globel Pleher«, sie wollten
»von Kötzschenbroda nach Mecklenbeuren« fahren.
Nun ist das Unbehagen gegen die Bahnprivatisie-
rung weder ein Syndrom der SPD, auch in der CDU
und in der Bevölkerung sind viele dagegen, noch per
se ein Ausweis von Gestrigkeit. Es ist eher die Art der
Argumente und der Gestus, mit dem debattiert wird,
der zu denken gibt. Erstens: Die Globalisierung soll
bitte schön draußen bleiben, wir brauchen eh nur
eine Fahrkarte bis Mecklenbeuren. Zweitens: Geld
vom privaten Investor ist schlecht, Geld vom Bürger
ist gut. Drittens: Wo kämen wir denn da hin?
Jedenfalls muss Beck alsbald die Notbremse ziehen.
Sollte die Union dem Volksaktienmodell der SPD
nicht zustimmen, werden alle weiteren Entschei-
dungen von der Zustimmung durch den Parteivor-
stand und gegebenfalls einen weiteren Parteitag ab-
hängig gemacht, verspricht der Parteivorsitzende, ein
entsprechender Text wird eilig in einen Antrag verpackt
und so beschlossen. Damit ist passiert, was die Minis-
ter am meisten befürchtet hatten: Die Bahnreform ist
beerdigt, wie die Kanzlerin ernüchtert feststellt. Und
die Partei hat sich in die Exekutive gedrängelt.
wagen, beides wollte Gabriel nicht. Unerwartet,
aber will man das wirklich zum Gradmesser für das
Linkssein der SPD machen, in einer Zeit, in der
sich die CDU-Kanzlerin als Klima-Fee betätigt?
Das heftig umstrittene Afghanistan-Mandat En-
during Freedom geht – anders als vor wenigen Wo-
chen erwartet – problemlos durch, dagegen scheiden
sich an einem Satz in bestem 68er-Sound die Geister:
»Wer die menschliche Gesellschaft schaffen will, muss
die männliche überwinden.« Andrea Nahles, die 37-
jährige Vizevorsitzende, hatte ihn aus dem Programm
gestrichen. Erhard Eppler, der 81-jährige Parteiin-
tellektuelle, gesteht, er stamme nicht etwa von Radi-
kalfeministinnen, sondern von ihm. Und als sich
auch der Patriarch Hans-Jochen Vogel als Fan dieser
Formulierung outet, da ist längst klar, dass der Satz
ebenso im neuen Programm enthalten sein wird wie
der »demokratische Sozialismus«, zu Beginn des
Jahrhunderts als Gegenposition zum Kommunismus
ersonnen. Altmodisch? Ja. Indiz für einen Rückfall?
Wohl kaum.
Der »demokratische Sozialismus« gehört zur Folk-
lore und Tradition der Partei wie das christliche Men-
schenbild zur CDU. Das erschreckt niemanden mehr
– ein elektrisierendes Zukunftsprogramm ist es aber
auch nicht. Was also bleibt von Kurt Becks Kurs,
wenn man Symbolisches, Nostalgisches und Mensch-
liches abzieht? Ein sozial- und arbeitsmarktpolitisches
Programm, das in bester Beckscher Manier hier und
da an kleinen Schräubchen dreht, alles nicht so wild
im Einzelfall, in der Summe aber verdichtet zu dem
fatalen und altbekannten Satz: Die Kassen geben es
her. Fragt sich nur, wie lange noch.
zenden gewählt, die Deutsche Bahn
vor bösen Heuschrecken bewahrt, den
demokratischen Sozialismus gerettet,
mehr Geld verteilt und nebenbei noch die »männ-
liche Gesellschaft« überwunden, und das alles in
drei Tagen – man muss sich die SPD als eine sehr
glückliche Partei vorstellen. Ist das jetzt der berühmt-
berüchtigte Linksruck, den die einen erhofft und
die anderen befürchtet haben? Die Antwort nach
dem Hamburger Parteitag lautet: Eher ja. Ist es auch
ein Rückfall, wie die CDU behauptet? Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht. Vor allem aber ist es
bisher nur gefühlte Politik.
In Hamburg ging es zum ersten Mal seit Langem
bei einem SPD-Parteitag um nichts anderes als die
SPD selbst. Nicht die Botschaften nach draußen
standen im Vordergrund, sondern die Selbstertüch-
tigung, und deshalb musste man schon nah heran-
gehen, um zu erkennen, was da möglicherweise neu
war und was alt und was einfach nur Folklore.
Neu war etwa die Zuneigung zu Gerhard
Schröder, den die SPD in Hamburg fast zu ihrem
Ehrenvorsitzenden gemacht hätte, wenn der sich
das nicht bis zum 75. Geburtstag verbeten hätte.
Schröder jedenfalls ist es, der zu Beginn des Partei-
tags den Spannungsbogen beschreibt, in dem sich
die SPD bewegen muss. »Werte«, so Schröder,
»werden Wirklichkeit in der Regierung.« Dort und
nur dort könne ein sozialdemokratisches Wertege-
rüst umgesetzt werden. So großen Beifall bekommt
Schröder, wenn er vom Regieren spricht, dass man
glatt den Eindruck bekommen könnte, die SPD
habe doch mehr von der Agenda 2010 verinnerli-
cht, als es ihr selbst lieb ist. Zumal der Hamburger
Spitzenkandidat Michael Naumann, unmittelbar
Ja zu Beck soll aber noch lange nicht nein zu
Müntefering heißen, das macht die Partei am
zweiten Tag deutlich, als der Vizekanzler ans Red-
nerpult tritt, um den Antrag »Gute Arbeit« zu be-
gründen. Zum Streitpunkt Arbeitslosengeld wolle
er nichts sagen, so Müntefering, das habe er ver-
sprochen. Dafür erzählt er dann noch die Anek-
dote, wie er zu Beginn seiner politischen Laufbahn
beim Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner an-
getreten sei und seine Pläne erläutert habe. »Dann
So ziehen sich die Widersprüchlichkeiten durch
den Parteitag, der sich ansonsten selbst genügt.
Am Samstagmorgen etwa haben die Delegierten
ihrem Umweltminister Sigmar Gabriel zugejubelt,
um kurz darauf gleich zweimal gegen ihn zu stim-
men: Ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern
auf Autobahnen wird ebenso beschlossen wie ein
Nein zur steuerlichen Begünstigung von Dienst-
i
Weitere Informationen im Internet:
www.zeit.de/spd
M
enschen, Menschen, Menschen, Men-
Der Mensch
als
Ideologie
Sorgen&Nöte, wohin man auch schaut.
Was die Sprache von SPD-Chef Beck über
seine Politik verrät
VON BERND ULRICH
kommen sie ins Grübeln: Was könnten sie wohl
für Sorgen&Nöte vortragen? Was könnte der Staat
vielleicht für sie tun? Sie machen sich klein, weil
sie Grund haben, sich davon etwas zu versprechen.
Und die wirklich Schwachen schauen immer öfter
in die Röhre.
Und dann gibt es bei Beck außer den Menschen
und den Genossen, die auf die Menschen aufpassen,
noch andere menschenähnliche Wesen, zum Beispiel
Männer. Allerdings muss die männliche Gesellschaft
überwunden werden, um die menschliche zu errin-
gen. So hat es die SPD in Hamburg beschlossen. Das
kommt bestimmt bald, spätestens wenn die SPD die
nächsten Landtagswahlen gewinnt, dann werden
auch aus Männern Menschen. Außerdem gibt es die
mit den breiten Schultern, die mehr tragen müssen,
und es gibt Heuschrecken, die nichts tragen wollen
und deshalb auch keine Menschen sind, sondern
Tiere.
Was es aber nicht gibt bei Kurt Beck, das sind
Bürger. Also Menschen, die nicht zuerst
Sorgen&Nöte haben, sondern Pläne, Wünsche,
Argumente. Bürger sind Menschen, zu denen sich
die Politik und Vater Beck nicht herunterbeugen
müssen, um sie auf die Hand zu nehmen und ih-
rem Fiepen zu lauschen. Bürger sind Menschen,
die stehen.
Schwerpunktinitiative in den kommenden Jahren
bitten, nämlich nahe bei den Menschen sein.« Eine
jahrelange Schwerpunktinitiative, um bei den
Menschen zu sein? Wo war die SPD bisher?
In Kurt Becks Denken existiert der Homo sa-
piens nur in zwei Varianten: »die Menschen« und
»die Genossen«. Wobei die Genossen die Men-
schen sind, die auf die anderen Menschen aufpas-
sen. Denn Becks Menschen haben nicht, wie etwa
amerikanische Menschen,
hopes and aspirations,
also auf Deutsch Hoffnungen und Erwartungen,
sondern auf sozialdemokratisch: »Sorgen&Nöte«.
Becks Menschen waren nicht beim Parteitag,
sie sind vielmehr da draußen im Lande. Sie sind
klein, hilfsbedürftig, rechtschaffen, man muss ih-
nen genau zuhören, denn sie sprechen sehr leise,
weil sie so klein sind. Beck versteht die Sprache
dieser Menschen, sagt er. Leider hat er selber keine
Sprache, die andere Leute verstehen könnten.
Franz Müntefering ist ein Mann von einfacher
Bildung, der kluge, kurze Sätze sagt, die jeder ver-
steht. Beck ist ebenfalls ein Mann von einfacher
Bildung, aber er macht lange Sätze, beständig ver-
mischt er seine eigene Sprache – wenn er sie noch
hat – mit bürokratischem Polit-Sprech, wie man
ihn auf gewerkschaftlichen Fortbildungen der
Siebziger lernen konnte. Diese Sprache trägt
schwer an der Ideologie und Soziologie, wie sie zu
der Zeit gerade Mode waren. Beck beherrscht die-
se Sprache nicht. Sie beherrscht ihn.
Natürlich sind Becks »Menschen« ein Verspre-
chen, aber ein falsches. Der Vorsitzende sagt, was
viele Leute gern hören möchten, nämlich dass sich
jemand um sie kümmert, der Beck, die SPD, der
Staat. Falsch ist das Versprechen, weil die meisten
Sorgen&Nöte der Menschen nur von den Men-
schen selbst gelindert werden können sowie von
ihren Freunden, Kollegen, Nachbarn und Ver-
wandten.
Dabei sind die allermeisten Menschen in
Deutschland keineswegs so, wie Beck behauptet,
nämlich klein und hilfsbedürftig. Wenn Becks An-
sprache jedoch Schule macht, dann schafft sich die
Politik genau diesen Menschen. Wenn man den
Wohnraum, den Wasserverbrauch, die Mobilität,
die Zahl der Handys, den CO₂-Ausstoß pro Kopf
der Bevölkerung ansieht, also all die Faktoren, die
Reichtum ausmachen, dann haben die meisten
Deutschen wenig Grund zum Klagen, und sie kla-
gen auch nicht viel, wenn man sie nicht ausdrück-
lich darum bittet.
Wenn aber Kurt Beck von den Deutschen
spricht, schrumpft eines der reichsten Völker der
Erde zu einer Nation sozialer Zwerge. Und sofort
schen, Menschen, Menschen, Menschen,
Menschen, Menschen, Menschen, Men-
schen, Menschen, Menschen, Menschen, Menschen,
Menschen, Menschen, Menschen, Menschen, Men-
schen, Menschen, Menschen, Menschen, Menschen,
Menschen, Menschen, Menschen, Menschen, Men-
schen, Menschen, Menschen, Menschen, Menschen,
Menschen, Menschen, Menschen, Menschen, Men-
schen, Menschen, Menschen, Menschen, Menschen,
Menschen, Menschen, Menschen, Menschen, Men-
schen, Menschen, Menschen, Menschen, Menschen,
Menschen, Menschen, Menschen. 54-mal verwen-
dete Kurt Beck in seiner Rede auf dem Hamburger
Parteitag die Vokabel »Mensch«. Meistens mit dem
bestimmten Artikel, also »die Menschen« oder »den
Menschen«, vor allem aber »für die Menschen«.
Und immer im Plural. Der Mensch als Singular,
als Einzelner existiert für Beck nicht, wahrschein-
lich weil ein Singular-Mensch im Verdacht steht,
Egoist zu sein. Die Menschen sind SPD, der Mensch
ist FDP, bestenfalls Grüner.
Nun könnte man meinen, der SPD-Chef habe
da nur eine rhetorische Figur überstrapaziert. Weit
gefehlt, denn »die Menschen« sind Kern seiner Po-
litik, sie sind Becks Ideologie: »Deshalb, liebe Ge-
nossinnen und Genossen, will ich euch um eine
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31. Oktober 20 07 DIE ZEIT Nr. 45
DAS LINKS-RECHTS-SCHEMA
Hinter der Debatte um eine längere Auszahlung
des Arbeitslosengelds für Ältere verbirgt sich
ein Streit um Markt und Staat. Wer steht wo?
Ein Überblick
ANGELA
MERKEL,
Ex-Reformerin
FRANZ
MÜNTEFERING,
Reformer
LUDWIG
ERHARD,
Ökonom
und Christ
FRIEDRICH
MERZ,
radikaler
Anwalt
GUIDO
WESTERWELLE,
neo und liberal
Fotos[M]: Hulton-Deutsch Collection/corbis; H. Schacht/
action press; T. Brake/dpa; Th. Köhler/photothek.net; A. Rentz/
gettyimages; V. Hartmann/ddp; M.Darchinger; Malte Oss/
dpa M.-S.Unger; A. Hennig/dpa;U. Baumgarten/vario press; W.Schüring
... und die CDU geht mit
Vor der Koalitionsrunde in Berlin: Die Kanzlerin gerät in Bedrängnis und muss sich bekennen
VON BRIGITTE FEHRLE UND MATTHIAS GEIS
W
enn sich Union und SPD am Sonn-
Das ist ein unguter Zufall, denn Merkels Abwe-
senheit verstärkt den Eindruck ihrer Unentschie-
denheit. Kurz vor dem Abflug hat sie der Öffent-
lichkeit in der Frage des Arbeitslosengeldes ein
Rätsel aufgegeben. In einem kurzen Fernsehin-
terview sagte sie erstens: Die Union macht bei
allem mit, was Arbeitsplätze schafft. Zweitens:
Wenn wir etwas tun beim Arbeitslosengeld für
Ältere, muss es kostenneutral sein. Und drittens:
Wo ein Wille ist, ist ein Weg.
Heißt das, sie will einen Kompromiss? Offen-
sichtlich ja. Das würde bedeuten, sie will weiter-
machen mit einer Politik, die möglichst wenig
Reibung und Konflikt mit den Sozialdemokraten
sucht und die sicherheitsverliebten Bürger nicht
verschreckt. Aber wie? Zwischen der Position der
Union, die die Verlängerung des Alg I kosten-
neutral gestalten will, und der der SPD, die mit
mindestens 800 Millionen Zusatzkosten rechnet,
scheint ein Mittelweg schwer möglich. Statt 24
Monate für Ältere nur 22? Das wäre lächerlich
und würde beiden Parteien keine Anerkennung
bei ihren Anhängern bringen. Deshalb könnte
ein Kompromiss wie so oft darin liegen, dass das
überschüssige Geld der Bundesanstalt für Arbeit
zweimal ausgegeben wird. Zum einen für eine
Verlängerung des Arbeitslosengeldes, wie sie die
SPD fordert. Und zum anderen für eine Senkung
der Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung
über die bereits anvisierten 3,5 Prozent hinaus,
was der Union entgegenkäme. Ein solcher Kom-
promiss hätte nur einen Haken: Er rechnet mit
weiter sinkenden Arbeitslosenzahlen. Ein wirt-
schaftlicher Abschwung würde ihn in kürzester
Zeit zunichte machen.
verdiener vor Altersarmut schützen sollen. Der Bei-
fall der Gewerkschaften ist Laumann sicher, der
DGB arbeitet an ähnlichen Konzepten.
Eine solchermaßen kompromisswillige und links-
anfällige Union könnte allerdings auf eine Sozialde-
mokratie treffen, die ihr neues Selbstbewusstsein in
Standfestigkeit ummünzt. Gefragt nach einer Einigung
mit der Union, antwortete Kurt Beck schon auf dem
Parteitag: »Ich habe Zeit.« Die SPD weiß, dass sie ein
Scheitern leichter erklären könnte als die Union.
Angela Merkel wiederum weiß einen vielstim-
migen Chor hinter sich. Da sind neben den Sozial-
politikern die beiden Wahlkämpfer Christian Wulff
aus Niedersachsen und Roland Koch aus Hessen,
die das Thema gern »abräumen« würden. Auf der
anderen Seite sorgen sich nicht nur die Vertreter des
Wirtschaftsflügels um das ordnungspolitische Profil
der Union. Der parlamentarische Geschäftsführer
der CDU/CSU-Fraktion, Norbert Röttgen, erin-
nert daran, worin die Legitimation der Großen Koa-
lition besteht: nämlich von den Bürgern etwas zu
verlangen, im Interesse ihrer Kinder und Enkel-
kinder. Und selbst in Bayern, dem Land der Christ-
sozialen, regt sich leise Widerstand. Peter Ramsauer,
Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, warnt
davor, der SPD allzu weit entgegenzukommen:
»Wenn wir jetzt nachgeben, werden wir keine Ruhe
mehr haben, dann kommen immer neue populisti-
sche Forderungen.« Sein Rat an die eigenen Reihen:
»Wehret den Anfängen!«
Dieser Gedanke wird auch Angela Merkel um-
treiben. Will sie ihre Partei nicht in einen Überbie-
tungswettbewerb mit der SPD trudeln lassen, muss
sie es sein, die Stopp sagt. Warum nicht jetzt?
tag im Koalitionsausschuss treffen,
hat sich erstmals seit Jahren das
Kraftfeld verschoben. Vorbei ist die
Zeit, da Franz Müntefering neben der Kanzlerin
stand und verdutzt und überrumpelt sagte: Frau
Merkel hat recht, wenn diese sozialdemokratische
Grundwerte verkündet – am Aufschwung müssen
alle teilhaben! Denn die Union und die Kanzlerin
geben in der Großen Koalition seit dem vergan-
genen Wochenende nicht mehr allein den Ton an.
Kurt Beck ist es gelungen, seine Partei mit dem
umstrittenen Beschluss zur Verlängerung des Ar-
beitslosengeldes für Ältere in die Offensive zu
bringen. Die SPD hat damit ihre Definition von
sozialer Gerechtigkeit präzisiert und nach links
verschoben. Die Kanzlerin gerät in Bedrängnis.
Es ist lange her, dass es der SPD gelungen ist,
die Union derart unter Zugzwang zu setzen. Das
letzte Mal sah sich im Herbst 2003 die damalige
Oppositionsführerin Angela Merkel gezwungen,
auf die Kurskorrektur Gerhard Schröders zu rea-
gieren, der ein halbes Jahr zuvor mit der Agenda
2010 die reformpolitische Kurswende der rot-
grünen Koalition eingeleitet hatte. Damals ant-
wortete Merkel auf dem Leipziger Parteitag mit
einem ambitionierten Reformprogramm, mit
dem sie ihren eigenen politischen Anspruch wie
den ihrer Partei klar definierte. Der Wettlauf um
die richtigen Konzepte zum Umbau des Sozial-
staats war eröffnet. Er führte am Wahltag 2005
zu dramatischen Verlusten der Union und in der
Folge zur Großen Koalition.
Seither regiert die Kanzlerin Angela Merkel in
einem kommoden Schwebezustand. Eine Agen-
da-treue SPD hat es ihr leicht gemacht, sich hier
und da sozialer zu gerieren als die Sozialdemo-
kraten. In den vergangenen beiden Jahren durfte
gerätselt werden, welche reformpolitischen
Grundüberzeugungen in der Partei der Kanzle-
rin unter den Bedingungen der Großen Koali-
tion und der guten Konjunktur noch übrig ge-
blieben waren. Die härteste sozialpolitische Ent-
scheidung dieser Legislaturperiode – die Rente
mit 67 – kam aus dem Haus des sozialdemokra-
tischen Arbeitsministers Müntefering. Etwas ver-
gleichbar Unpopuläres musste die Union in der
Großen Koalition nicht durchsetzen. Im Gegen-
teil: Familienministerin Ursula von der Leyen
(CDU) durfte freigebig zusätzliche Milliarden an
Familien verteilen.
Nun, wo Kurt Beck den Kampf ums soziale
Profil eröffnet, muss die Union selbst die Frage
beantworten, wie links sie sich künftig präsentie-
ren will. Will sie – drei Monate vor den wich-
tigen Landtagswahlen in Hessen und Niedersach-
sen – der SPD und der gesellschaftlichen Mehr-
heitsstimmung folgen, oder wird sie ihren re-
formpolitischen Ansatz erneuern und dem
Drängen des Koalitionspartners nach linken
Korrekturen klare Grenzen setzen?
MITARBEIT:
MATTHIAS KRUPA, ELISABETH NIEJAHR
Jürgen Rüttgers will am liebsten
noch mehr verteilen
Doch offenbar glaubt die Kanzlerin, dass ein Kom-
promiss ihr im Moment mehr nützt als ein Streit
mit der SPD. Ganz nach dem Muster der Vergan-
genheit, dass jede positive Entscheidung immer auf
das Konto der Kanzlerpartei geht. Was aber, wenn
das diesmal nicht klappt, wenn die Bürger merken,
dass sie diese soziale Veränderung den Sozialdemo-
kraten zu verdanken haben?
Würde die Kanzlerin dies fürchten, müsste sie
den Schwenk der Sozialdemokraten nutzen, um
ihrerseits Profil zu zeigen. Sie müsste das Reform-
programm der Union durchdeklinieren und aus
ihrer Sicht darlegen, was soziale Gerechtigkeit heißt.
»Sozial ist, was Arbeit schafft«: Merkel verwendet
diese Formel seit Jahren und hat sie nun in aller
Unverbindlichkeit wiederholt. Doch welche Politik
folgt daraus? Im Wahlkampf 2005 hieß »Sozial ist,
was Arbeit schafft« unter anderem: Die Steuerer-
klärung muss auf einen Bierdeckel passen. Steuern
werden radikal gesenkt. Gesundheitskosten werden
mit Kopfpauschalen finanziert und die Nacht- und
Feiertagszuschläge abgeschafft.
Dass Angela Merkel, seit sie Kanzlerin ist,
nicht mehr als Reformerin in Erscheinung tritt,
kann zwei Gründe haben: Entweder sie denkt
nicht mehr so, oder sie glaubt, für diese Positio-
nen derzeit in der eigenen Partei keine Mehrheit
zu bekommen. Wahrscheinlich sind beide Erklä-
rungen richtig. Vieles spricht dafür, dass Merkel
ihre Positionen modifiziert hat. Seit dem Trauma
des Wahlabends 2005 hat man von ihr keine un-
zweideutigen Reformbekenntnisse mehr gehört.
Und nun hat sich die politische Stimmung noch
weiter verschoben.
Die Bürger fordern mehr Staat und mehr Si-
cherheit, auch mehr soziale Sicherheit. Dieser
Linkstrend geht auch an der Union nicht spurlos
vorbei. Mit Jürgen Rüttgers hat Merkel einen
Ministerpräsidenten, der versucht, mit immer
neuen Vorschlägen für eine soziale Verteilungs-
politik zu punkten. Der SPD-Parteitag war noch
nicht vorüber, da forderte er eine Aufstockung
des sogenannten Schonvermögens für Hartz-IV-
Empfänger. Und sein Sozialminister Karl-Josef
Laumann, Chef des Arbeitnehmerflügels der
CDU, stellte am vergangenen Freitag in Düssel-
dorf neue Ideen für die gesetzliche Rentenversi-
cherung vor, die Langzeitarbeitslose und Gering-
Ein Kompromiss könnte heißen, das
Geld zweimal auszugeben
Das Feld, auf dem diese Frage zuerst beantwortet
wird, ist die Verlängerung des Arbeitslosengelds I.
Wie dieser Vorstoß zum entscheidenden Faktor
für die Neuordnung der Machtverhältnisse in
der SPD und zugleich für ihre inhaltliche Kurs-
korrektur geworden ist, so wird nun die Ausein-
andersetzung in der Koalition um die Realisie-
rung dieses Vorschlages zum Lackmustest für die
Kanzlerin und ihre Partei.
Besondere Ironie gewinnt dieser Vorgang,
wenn man sich an den Sommer des Jahres 2006
erinnert, als der CDU-Parteitag in Dresden dem
Drängen des nordrhein-westfälischen Minister-
präsidenten Jürgen Rüttgers nachgab und – lan-
ge vor der SPD – die Verlängerung des Arbeitslo-
sengeldes beschloss. Damals ließ die Kanzlerin
die Dinge laufen. Die SPD musste dafür sorgen,
dass dem Sozialpopulismus des CDU-Parteitages
in der Wirklichkeit nichts folgte. Nun, ein Jahr
später, folgt doch etwas.
Merkel ist Anfang der Woche zu einem lange
geplanten Staatsbesuch nach Indien gefahren.
S.5
Nr. 45
DIE ZEIT
SCHWARZ
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granger.hermiona
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